Ohne Semantik keine Interoperabilität
Standardisierung im Datenaustausch beginnt mit einer einheitlichen Sprache
Wie kommt es eigentlich dazu, dass unterschiedliche Informationssysteme Daten austauschen können? Die Grundlagen erläutert Prof. Dr. Sylvia Thun, Professorin für Digitale Medizin und Interoperabilität am BIH@Charité – Universitätsmedizin Berlin, stell. Vorstandsvorsitzende HL7 Deutschland e.V. und Vorsitzende des Spitzenverbands IT-Standards im Gesundheitswesen (SITiG), im Interview.
Frau Professor Thun, was sind die Merkmale einer idealen interoperablen Vernetzung?
Prof. Dr. Sylvia Thun: Das bedeutet, dass ein sicherer Datenaustausch entlang der Patient Journey über Einrichtungs- und Sektorengrenzen hinweg gewährleistet ist. Technisch betrachtet heißt das, dass einheitliche Daten mit derselbe Sprache verwendet werden, zum Beispiel SNOMED oder ICD. Zudem muss diese Sprache auch gleich benutzt werden, mit derselben Syntax, die dann auch agil auf neue medizinische Methoden reagieren muss.
Woran hakt es bei diesem Idealbild gegenwärtig?
Prof. S. Thun: Bisher lagen die Zuständigkeiten bei unterschiedlichen Stellen, die sich nicht ausgetauscht, sondern semantische Inhalte immer wieder anders und neu definiert haben. Es gab also bisher keine übergeordnete Koordinierungsstelle, die all das zusammengeführt und harmonisiert hat. Zwar hat HL7 Deutschland als weltweit anerkannte Standardisierungsorganisation bislang diese Aufgaben übernommen, aber leider halten sich nicht alle Institutionen und Projekte an diese Vorgaben. Genau das hat sich aber jetzt geändert.
Sie sprechen die neue Koordinierungsstelle für Interoperabilität an. Bitte erzählen Sie uns doch etwas dazu.
Prof. S. Thun: Die Koordinierungsstelle ist bei der gematik angesiedelt und stützt sich auf die Gesundheits-IT-Interoperabilitäts-Governance-Verordnung, kurz GIGV. Das Interoperabilitätsverzeichnis vesta konnte zwar Transparenz erzeugen, erwies sich jedoch nur bedingt als geeignete Plattform zur Empfehlung von Standards und der Schaffung von Interoperabilität. Die Koordinierungsstelle soll das ändern und wird gemeinsam mit einem Expertengremium Bedarfe identifizieren und Empfehlungen aussprechen. Die Umsetzung erfolgt mit Unterstützung von Arbeitskreisen, die aus Expertinnen und Experten zusammengesetzt sein werden. Komplementiert wird das Ganze durch eine neue Wissensplattform für Interoperabilität. Diese dient im Sinne einer Weiterentwicklung von vesta als erste Anlaufstelle im Markt, bietet als Nachschlagewerk sowie Analyse-Werkzeug Orientierung und stellt die umfassende Transparenz der Struktur und Ergebnisse der Governance sicher.
Ist diese Koordinierungsstelle also ein Weg, bisher ungenutztes Potenzial in der intersektoralen Kommunikation und die Kommunikation mit dem Patienten zu heben?
Prof. S. Thun: Unbedingt! Der Standard FHIR beispielsweise ist in der Lage, auch mobile Endgeräte von Patienten zu bedienen und sie aktiv in die Kommunikation einzubinden. Die Mittel sind also da, es hapert nur noch an der Umsetzung.
Welchen Stellenwert hat die Semantik für die Interoperabilität?
Prof. S. Thun: Ohne Semantik gibt es keine Interoperabilität. Datenaustausch ist nur mit eindeutiger Semantik möglich. Ohne diese können andere Systeme die verschickten medizinischen Informationen nicht interpretieren und so sind auch keine intelligenten Systeme möglich. Wir wollen Klarheit, Präzision und Fehlerfreiheit. Dafür benötigen wir Terminologien.
Terminologien gibt es ja schon. Warum aber reden wir immer noch über Semantik und Interoperabilität?
Prof. S. Thun: Darüber werden wir – leider – auch die nächsten hundert Jahre noch reden. So wie sich die Medizin verändert, verändert sich eben auch die IT. SNOMED CT beispielsweise ist in Deutschland erst seit rund einem Jahr verfügbar. Und die Implementierung in IT-Systeme braucht ihre Zeit. Die Unternehmen müssen erst einmal Know-how aufbauen und dann ihre Software dementsprechend anpassen. Aber was bei den etablierten Terminologien wie OPS und ICD bereits funktioniert, wird bald auch bei den in Deutschland neuen wie SNOMED und LOINC funktionieren.
Haben aber nicht auch Krankenhäuser die Möglichkeiten, standardkonforme Schnittstellen zu forcieren, etwa in den Ausschreibungen?
Prof. S. Thun: Das tun sie ja bereits seit einiger Zeit, allerdings nur unspezifisch. Es wird beispielsweise allgemein die IHE-Konformität abgefragt, ohne genaue Profile zu benennen oder Use Cases zu definieren. Vielleicht mangelt es da auch an Expertise im Einkauf oder daran, den IT-Abteilungen exakt festzulegen, welche Nachrichten oder FHIR-Ressourcen benötigt werden. Da müssen die Anforderungskataloge noch sehr viel präziser werden.
Sie sprechen ja immer gerne von der echten Interoperabilität. Wie sieht die aus?
Prof. S. Thun: Interoperabilität kann durch Absprachen zwischen zwei Systemen erfolgen, die die Inhalte von Nachrichten festlegen. Wenn wir aber einen komplexeren Datenfluss abbilden wollen, benötigt es die sogenannte echte Interoperabilität. Die setzt den Einsatz von Standards oder von Referenzarchitekturen voraus, die die Datenelemente übersetzen.
Lassen Sie uns bitte konkret auf die IT-Kooperation Charité Vivantes schauen. Sehen Sie dort die echte Interoperabilität erfüllt? Schließlich kommunizieren 20 Standorte verteilt in ganz Berlin miteinander.
Prof. S. Thun: Durchaus, und damit ist dieses Projekt meines Erachtens einmalig in Deutschland. Die IT-Kooperation zeigt, dass es gelingen kann, unter Verwendung des FHIR-Standards mit einer innovativen Interoperabilitätsplattform echte Datenelemente innerhalb des Workflows zwischen Großunternehmen auszutauschen. So etwas sollte eigentlich in ganz Deutschland möglich sein, aber wir üben jetzt erst einmal in Berlin. Mit dem Projekt „Das digitale Krankenhaus“ gibt es einen ähnlichen Ansatz in Nordrhein-Westfalen, der aber (noch) nicht auf der FHIR-Technologie basiert.
Warum eignet sich FHIR so gut zum Austausch strukturierter granularer Patientendaten?
Prof. S. Thun: FHIR ist ein moderner Standard, der auch Web-Services unterstützt, der die Möglichkeit bietet, Analysen durchzuführen, und der weltweit implementiert ist. Da FHIR Open Source ist, kann ihn jeder verwenden. Darüber hinaus wird er von den IT- und Medizintechnikanbietern ebenso akzeptiert wie von der Wissenschaft. Nicht zuletzt bietet FHIR die Möglichkeit, Terminologien adäquat anzubinden, um dann in einer sehr klaren, präzisen Art und Weise Informationen auszutauschen.
Gibt es auch noch Herausforderungen zu lösen?
Prof. S. Thun: Viele FHIR-Ressourcen sind noch nicht normativ. In Deutschland gibt es unterschiedliche Vorgaben seitens der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der gematik oder der Medizin-Informatik-Initiative. Darüber hinaus fehlen trotz einschlägiger Normen für viele Bereiche Terminologien.
Wie gehen Sie damit in der Praxis um?
Prof. S. Thun: Im Spitzenverband IT-Standards im Gesundheitswesen sind wir ein Expertengremium von zehn Mitgliedern. Wir kennen die Semantik sehr gut, wissen sehr genau, was vorhanden ist und was noch fehlt. Wir arbeiten eng mit dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, kurz BfArM, zusammen. Darüber besteht eine Abstimmung mit dem Kuratorium für Fragen der Klassifikation im Gesundheitswesen. Durch die Vernetzung der verschiedenen Institutionen treiben wir eine Vereinheitlichung voran und versuchen, in diesem Prozess die Sicht aus der klinischen Routine einzubringen.
Vielen Dank für die Einblicke, Frau Professor Thun.